Schnee-Eulen: Das Geheimnis der weißen Eule - [GEO]

2022-10-12 02:30:27 By : Mr. Mike Lin

Es ist eine stille, eine geheimnisvolle Eroberung, die Nordamerika erlebt. Leise fliegen die Invasoren ein, Geschöpfe der menschenleeren Arktis, auf Schwingen von anderthalb Meter Spannweite. Sie tauchen plötzlich auf im Mittleren Westen der USA oder an der Ostküste, wandern neuerdings sogar bis hinab nach Florida. Aus durchdringenden gelben Augen blicken sie auf die Landschaften der Zivilisation. Sitzen auf Zaunpfählen, Straßenschildern, Hausdächern. Wie Botschafter einer fernen Welt.

Die meisten Menschen sind glücklich über den Besuch der weißen Eulen. Bei Kansas City kam es zu Verkehrsstaus, weil Tausende Naturfreunde sich aufmachten, die Schnee-Eulen am Smithville-See zu beobachten. Anderen erscheint das Schauspiel eher als Heimsuchung. Namentlich jenen, die für die Sicherheit startender und landender Passagiermaschinen zuständig sind. Schnee-Eulen nämlich lieben Flughäfen. Wahrscheinlich erinnert das weite, karge Gelände sie an die heimische Tundra. Die Stille des hohen Nordens scheinen sie aber nicht zu vermissen. Am New Yorker John F. Kennedy Airport wurden im Dezember 2013 drei der großen, zu den Uhus zählenden Vögel abgeschossen - weil zuvor einige Artgenossen mit Passagierjets kollidiert waren.

Das Streifrevier mancher dieser Vögel umfasst ein Drittel der Arktis - von Alaska nach Sibirien und bis hinauf in die kanadische Inselwelt. Schnee-Eulen sind gut für den Langstreckenflug ausgestattet. Kaum ein anderer Vogel besitzt eine so günstige Relation zwischen der Größe der Schwingen und dem (vergleichsweise geringen) Gewicht, das sie tragen müssen. Und Schnee-Eulen können nicht nur weit, sondern auch extrem langsam fliegen, fast in der Luft stehen - was den Jagderfolg erhöht. Feinste Federn am Rand der Schwingen absorbieren die Fluggeräusche; die Opfer hören den Jäger am Himmel nicht. Dafür kann dieser seine Beute im Flug umso besser akustisch orten - kein Rauschen der Schwingen übertönt das Rascheln am Boden.

Die Beute, das sind zu 90 Prozent Lemminge, jedenfalls in der Brutsaison; jene arktischen Wühlmäuse, die sich in manchen Jahren explosionsartig vermehren. Das Nahrungsangebot scheint auch die Stärke der Invasionswellen nach Süden zu beeinflussen. Jedoch gänzlich anders als gedacht: Noch vor Kurzem ging man davon aus, Hunger treibe die Eulen nach Süden. Eher aber scheint Nahrungsüberfluss der Grund zu sein.

Der Sommer 2013 war ein formidables Brutjahr - Lemming satt für viele Eulenküken. Wenn die Nachkommenschaft aber so zahlreich flügge wird, kann es sogar in der Weite der Tundra eng werden. Denn Schnee-Eulen sind Einzelgänger mit aggressivem Revierverhalten. Offenbar ist die Wanderung nach Süden auch ein Ventil für steigenden Populationsdruck.

Daniel J. Kox, der Fotograf dieser Bildstrecke, ist auch Naturschützer. Mit seinem Arctic Documentary Project will er die Folgen des Klimawandels im hohen Norden vor Augen führen.

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